Haltung kann man nicht ausleihen
Warum die Mimik moderner Führungshaltungen unter Stress zusammenbricht
Organisationen lieben Leitbilder:
Agile Mindset. New Work. Servant Leadership. Leadership by Coaching.
Das klingt nach Reife, Menschlichkeit und Zukunftsfähigkeit. Das Problem: In vielen Fällen reden wir nicht über Haltung, sondern über Mimik von Haltung – also Verhalten, Sprache und Rituale, die gelernt, aber nicht innerlich integriert sind.
Und genau da wird es spannend – und gefährlich.
Haltung vs. Mimik: Was ich spiele und was mich steuert
Erste Grundunterscheidung:
Verhalten / Mimik ist, was ich tue, sage und inszeniere. Das kann ich relativ schnell lernen, kopieren, imitieren.
Haltung ist das Deutungs- und Bezugsgerüst dahinter. Sie steuert,
wie ich Macht verstehe,
wie ich mit Unsicherheit umgehe,
wie ich Verantwortung begreife,
und was für mich „richtig“ und „falsch“ ist.
In entwicklungspsychologischen Modellen (z.B. den sechs Haltungen nach Permantier) sind Haltungen Entwicklungsniveaus, nicht Kostüme. Ich „bin“ dort – mehr oder weniger stabil –, ich spiele sie nicht nur.
Wichtige Differenz, die häufig übersehen wird:
Es gibt die Haltung, in der ich mich im Alltag überwiegend bewege – mein aktueller Entwicklungsschwerpunkt.
Und es gibt die höchste voll integrierte Haltung – das tief verankerte Niveau, auf das ich unter Stress zuverlässig zurückfalle.
Dein Gedanke bringt es gut auf den Punkt:
Ich kann jede Haltung kontextbezogen einnehmen, die ich bereits durchlaufen und wirklich integriert habe.
Haltungen, die nur als Konzept am Rand meiner Gewahrwerdung stehen, kann ich maximal imitieren.
Damit landen wir bei drei Zuständen:
Voll integrierte Haltung
– sie hält auch dann, wenn es wehtut.
Aktuelle Arbeitshaltung / Entwicklungsschwerpunkt
– ich bewege mich zunehmend dort, bin aber noch nicht stabil.
Nicht integrierte, nur verstandene Haltung
– ich kenne Beschreibungen, Schlagworte und typische Muster, wohne innerlich aber woanders.
Nur in Zustand 3 entsteht das Phänomen, um das es hier geht:
geliehene Haltung.
Geliehene Haltung: Borrowed Behaviour ohne Fundament
Geliehene Haltung heißt:
Ich kenne das Leitbild: New Work, Servant Leadership, Agile Mindset, Leadership by Coaching.
Ich weiß, wie man in diesem Kontext klingt: welche Begriffe, Metaphern und Gesten dazu passen.
Ich kann die Mimik dieser Haltung nachspielen.
Typische Szenen:
Führungskräfte, die von Augenhöhe und Empowerment sprechen.
Leadership by Coaching: viele Fragen, wenig direkte Ansagen – zumindest im Workshop.
New Work-Rhetorik: Räume, Selbstorganisation, Sinnorientierung.
Servant Leadership: „Ich sehe mich als Dienstleister meines Teams.“
Von außen wirkt das beeindruckend. Das System sieht: „moderne Führung“, „zukunftsfähige Kultur“. Innen drin kann aber parallel etwas ganz anderes wirksam sein:
eine rationalistisch-funktionale Haltung (Kontrolle, Richtige-Lösungen-Logik, Effizienz),
oder eine eigenbestimmt-souveräne Haltung (Gestaltung, Leistung, Einfluss, Wirksamkeit).
Ich kann diese innere Logik eine Weile überdecken, solange:
die Lage überschaubar ist,
ich nicht massiv unter Druck stehe,
keine harten Zielkonflikte auftreten,
mein Status nicht bedroht ist.
Kurz: Die Mimik der Haltung funktioniert in der Komfortzone.
Die Mimik moderner Haltungen: New Work, Coaching & Co.
Nehmen wir ein paar gängige Leitbilder:
New Work suggeriert: Selbstbestimmung, Sinn, Partizipation.
Servant Leadership suggeriert: dienende Führung, Verantwortungsteilung, Demut.
Leadership by Coaching suggeriert: wenig Anweisung, viel Reflexion, Förderung von Eigenverantwortung.
Agile Mindset suggeriert: Lernorientierung, Umgang mit Unsicherheit, iterative Anpassung.
All diese Leitbilder basieren – im Idealfall – auf weiterentwickelten Haltungen (z.B. relativierend-individualistisch, systemisch-autonom). Ihre äußere Form lässt sich aber erstaunlich gut trainieren:
Fragetechniken lernen
Feedback-Formate nutzen
Check-ins, Retros, Dialogrunden moderieren
Empowerment-Sprache nutzen („Ihr entscheidet“, „Ihr seid die Experten“)
Was dabei häufig entsteht, ist kein integriertes Führungsverständnis, sondern eine Kopie der Oberflächenmuster:
Die Mimik der Haltung ist vorhanden –
die Haltung selbst aber nur als Folienpaket.
Was passiert unter Stress?
Nicht zurück in die „normale“ Haltung – sondern in die höchste, voll integrierte. Entscheidend ist, was passiert, wenn das System ernst wird:
Konflikte zwischen Bereichen
Existenzielle Risiken, politische Spiele
Strategische Bedrohungen, massive Zielkonflikte
Persönliche Gefährdung von Status, Karriere oder Gesicht
Hier wirkt deine Ergänzung:
In dem Moment, in dem es stressig, politisch oder existenziell wird, falle ich nicht einfach in meine „gewohnte Alltags-Haltung“ zurück, sondern in die höchste voll integrierte Haltung – und im harten Konflikt oft sogar eine Stufe tiefer.
Beispiel:
Im Alltag bewege ich mich zunehmend in einer eigenbestimmt-souveränen Haltung:
ich diskutiere, gestalte, spiele „Leadership by Coaching“, rede über Verantwortung und Freiraum.
Voll integriert ist bei mir aber eher die rationalistisch-funktionale Haltung:
Sicherheit durch klare Ansagen, Kennzahlen, Kontrolle, Eindeutigkeit.
Kommt nun echter Druck:
Der Vorstand fordert Ergebnisse.
Ein Projekt droht zu scheitern.
Es geht um Macht, Budgets, Köpfe.
Dann passiert typischerweise:
Die gecoachte, dialogische Mimik bricht weg.
Ich rutsche runter auf rationalistisch-funktional: Ansage statt Coaching, Kontrolle statt Vertrauen.
Im Extremfall geht es noch tiefer: impulsiv („jetzt reicht’s, Schluss mit Diskussion“) oder konformistisch („Hauptsache ich gehöre zur richtigen Seite“).
Für das Umfeld sieht das so aus:
Heute: „Wie siehst du das? Lass uns gemeinsam reflektieren.“
Morgen: „So, wir machen das jetzt. Diskussion beendet.“
Genau diese Sprünge heizen Konflikte zusätzlich an – weil sich Menschen nicht mehr auf die innere Logik ihrer Führung verlassen können.
Inkoherenz als Vertrauenskiller
Das Problem ist nicht, dass Menschen unter Stress regressiv werden.
Das ist normal. Das Problem ist, dass Organisationen die Diskrepanz zwischen Mimik und Haltung nicht thematisieren:
Offiziell: „Wir führen auf Augenhöhe, wir coachen, wir dienen dem Team.“
Faktisch unter Stress: klassische Machtausübung, Sanktionen, Schuldzuweisungen.
Mitarbeitende erleben dann:
weiche Worte, harte Maßnahmen
Coaching-Rhetorik, aber Null Raum für echten Widerspruch
New Work-Vokabular, aber gleiche Entscheidungslogik wie vor zehn Jahren
Das Ergebnis ist Zynismus: „Die spielen Servant Leadership, aber wenn’s ernst wird, entscheidet der Chef wie immer.“
„Leadership by Coaching heißt hier: Die stellen Fragen, bis du zufällig das sagst, was sie hören wollen.“
Zynismus ist kein Charakterfehler der Belegschaft, sondern eine gesunde Reaktion auf erlebte Inkoherenz.
Woran erkenne ich integrierte Haltung – und woran nur die Mimik?
Ein paar Marker, die man in der Praxis beobachten kann.
Integrierte Haltung
Verhalten bleibt erkennbar konsistent, auch wenn es brenzlig wird.
Nicht perfekt, aber nachvollziehbar.
Entscheidungen folgen anderen inneren Kriterien, nicht nur anderer Rhetorik.
Macht und Verantwortung werden sichtbar anders verteilt, nicht nur anders beschrieben.
Die Person kann eigenes Machtbedürfnis, Kontrollwunsch, Angst offen reflektieren.
Andere sagen:
„Ich muss nicht alles gut finden, aber der/die ist berechenbar.“
„Wenn es knallt, bleibt der Kern der Haltung erkennbar.“
Mimik ohne Haltung (geliehene Haltung)
In ruhigen Phasen: Coachingfragen, Empowerment-Sprache, Dialog-Formate.
Unter Druck: Rückfall auf klare Ansagen, verdeckte Hierarchie, einseitige Machtspiele.
Leitbilder und Realerleben passen nicht zusammen.
Es gibt viele „moderne“ Formate, aber wenig echte Verschiebung in Entscheidungslogik und Verantwortungsarchitektur.
Andere sagen:
„Klingt alles super – aber ich trau dem nicht.“
„Kommt drauf an, wer zuschaut.“
„Wenn es ernst wird, ist es Business as usual.“
Warum das für Organisationsentwicklung entscheidend ist
Für echte Organisationsentwicklung reicht es nicht, neue Führungsleitbilder einzuführen und Trainings zu buchen. Wenn man Haltung ernst nimmt, verschiebt sich die Fragestellung:
Wo ist unsere höchste voll integrierte Haltung – individuell und organisatorisch?
Nicht: Wo würden wir uns gerne sehen?
Sondern: Wo landen wir verlässlich, wenn es brennt?
Wo inszenieren wir nur die Mimik einer Haltung?
– New Work als Tapete,
– Servant Leadership als Sprache,
– Coaching als Technik.
Wo erzeugen wir systematisch Regression?
– durch Zielsysteme,
– durch Machtarchitekturen,
– durch implizite Strafen für Unsicherheit, Zweifel oder Widerspruch.
Solange diese Fragen nicht gestellt werden, bleibt jede „Haltungsinitiative“ kosmetisch.
Entwicklungslogik akzeptieren: Es gibt keine Abkürzung
Unbequeme Wahrheit:
Ich kann keine Haltung stabil einnehmen, die nur als Konzept an der Kante meines Bewusstseins steht. Ich kann sie beschreiben, imitieren, in Workshops spielen –aber unter Belastung gewinnt immer die höchste voll integrierte Haltung.
Konsequenzen:
Man kann Servant Leadership nicht „einführen“, indem man Fragen lehrt.
Man kann Leadership by Coaching nicht durch ein zweitägiges Coaching-Seminar verankern.
Man kann New Work nicht durch Möbel, Tools und Sabbatical-Regeln implementieren.
Was man tun kann:
Räume schaffen, in denen Macht, Angst, Regression explizit bearbeitet werden.
Strukturen so gestalten, dass sie reifere Haltungen stützen, statt sie unter Druck zu pulverisieren.
Führung noch stärker als Entwicklungsaufgabe betrachten – nicht als Technikschulung.
Regression entmoralisieren – und produktiv machen
Wenn Menschen unter Stress in frühere Haltungen zurückfallen, ist das kein persönliches Versagen. Es ist ein Signal. Die relevanten Fragen sind:
Wovor schützt mich mein Rückfall?
Welche Bedrohung (fachlich, politisch, psychologisch) macht meine moderne Mimik unhaltbar?
Was müsste sich strukturell ändern, damit ich in meiner aktuell reifsten Haltung bleiben kann?
Das ist der Punkt, an dem haltungsbasierte Organisationsentwicklung ansetzt:
Nicht noch ein Leitbild, noch ein Poster, noch ein Training – sondern Arbeit an den Bedingungen, unter denen Haltung sich zeigen, stabilisieren und weiterentwickeln kann.
Fazit: Leitbilder sind billig, Haltung ist teuer
Leitbilder, Claims und Mimik lassen sich relativ schnell produzieren. Ein paar Workshops, ein paar Slides – fertig ist die „neue Kultur“.
Haltung ist teuer:
Sie kostet Sicherheit, liebgewonnene Selbstbilder, gewohnte Machtmuster. Geliehene Haltung – borrowed behaviour – ist als Übergangsphase okay: Man probiert etwas aus, tastet sich vor, spielt mit neuen Formen.
Gefährlich wird es, wenn:
diese Zwischenphase als „neuer Standard“ verkauft wird,
unter Stress aber sichtbar die alte Logik regiert
– und niemand das Kind beim Namen nennt.
Zugespitzt:
Man kann die Mimik von New Work, Servant Leadership oder Leadership by Coaching trainieren. Unter Stress gewinnt aber immer die Haltung, die wirklich integriert ist – nicht die, die auf dem Poster an der Wand steht.
Wenn Organisationen das anerkennen, ändern sich ihre Fragen:
Weg von: „Welches Führungsleitbild führen wir als nächstes ein?“
Hin zu: „Wo stehen wir haltungsmäßig wirklich?
Wohin fallen wir zurück, wenn es ernst wird? Und was ist unser nächster ehrlicher Entwicklungsschritt – als Führung, als Team, als Organisation?
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